Der Nachbar im Westen
Henri Pousseur ist gestorben
von Reinhard Oehlschlägel
„Will der Komponist auf eine segensreiche Zukunft hinarbeiten, so unsicher diese angesichts unserer gegenwärtigen Situation erscheinen mag, so muss er weniger ein Demiurg sein, der der Welt seine individuelle Botschaft aufdrängt, als vielmehr der Geburtshelfer einer Realität, die – latent vorhanden im Kollektiv und sogar in der Natur – sich selbst sucht. Er muss die Hebamme sein: nicht für ein von nun an verwirklichtes und eben darum mystifiziertes, gar mystifikatorisches goldenes Zeitalter, sondern für jenes projektive und ungemein anziehende, stets fliehende und stets wiedererstehende, von vielerlei vereinten Dürsten hervorgerufene Bild, in dem wir das wahre Wesen der Utopie sehen.“ Mit diesem Ausblick beschloss Henri Pousseur im September 1981 seinen Aufsatz „Komposition und Utopie“, der in der Übersetzung von Monika Lichtenfeld und Jürg Stenzl das Programmheft des „Musikfest Liège – Köln“ einleitet, das die KGNM am 29. und 30. Oktober 1982 als ihr erstes partnerschaftliches Projekt mit einer Einrichtung neuer Musik einer anderen Stadt auf die Beine gestellt hat. Es war die dritte öffentliche Veranstaltung der KGNM nach ihrer Gründung, die ihrerseits – damals genauso wie heute – selbst „der Geburtshelfer einer Realität, die – latent vorhanden im Kollektiv und sogar in der Natur – sich selbst sucht,“ war und immer wieder anders bis heute ist. Das Musikfest Liège – Köln markierte dabei eines der drei, vier Ziele, die mit der Gründung der KGNM verbunden waren, nämlich Komponisten und deren Musik in der Stadt Köln öffentlich zur Diskussion zu stellen, die bisher gar nicht oder schon sehr lange nicht mehr in Köln präsent waren. Letzteres traf auf niemanden schmerzlicher zu als auf den am 23. Juni 1929 in Malmédy kurz hinter der deutsch-belgischen Grenze geborenen Henri Pousseur, der seinen ersten Kompositonsauftrag überhaupt 1954 vom Elektronischen Studio des WDR Köln erhalten hatte und bis 1964 mit seiner Musik in der WDR-Konzertreihe „Musik der Zeit“ in Köln immer wieder präsent war, seitdem aber vom WDR in Köln geradezu konsequent gemieden wurde, was mit der Person Karlheinz Stockhausens zu tun hatte.
Die Einladung der KGNM zu einer Darstellung der neuen Musik aus dem Conservatoire Royale in Liège, an dem Pousseur Komposition studiert, seit 1970 Komposition unterrichtet und das er seit 1975 geleitet hat, sowie dem in diesen Aufbaujahren gegründeten Centre de Recherches et de Formation Musicales de Wallonie in die Räume des Kölnischen Kunstvereins, war ganz unvermeidlich zugleich eine Einladung zur Darstellung der Ergebnisse der Arbeit von Henri Pousseur als Kompositionslehrer und Muskhochschuldirektor in Liège etwa hundert Kilometer westlich von Köln. Wiedergegeben wurden dabei nicht nur je eine instrumentale und eine elektronische Komposition von Pousseur, der französischsprachige Aufsatz über Komposition und Utopie in deutscher Übersetzung im Programmheft, ein frei formulierter Essay „Neue Musik ein urbanes Phänomen?“, der zuvor im Deutschlandfunk als Sendung aufgenommen worden war, sondern auch das ganze von Pousseur aufgebaute Umfeld der neuen Musik am Konservatorium in Liège: die improvsierte Musik von Garrett List und die komponierte und improvisierte Musik von Frederic Rzewski – so konsequent hat keine Musikhochschule in Deutschland der im weitesten Sinne experimentellen Musik der USA eine Chance der Vermittlung an die jüngeren Generationen gegeben, schon gar nicht die Kölner Hochschule –, dem aus Pousseurs eigener Brüsseler Gründung von 1958 hervorgegangenen von Patrick Lenfant geleiteten Elektronischen Studio und mit Musikern des Ensembles Musiques Nouvelles.
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Eine derart umfassende Darstellung der kompositorischen und der institutionellen Arbeit von Pousseur hat es vorher und auch später in Köln nicht mehr gegeben, so verdienstvoll auch die Aufführungen in den letzten Jahre von elektronischer Musik von Pousseur – von ihm selbst erläutert und ausgesteuert – im musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Köln sind. Dazu kamen auch bedeutende Darstellungen von Pousseurs „Paraboles Mix I–III“ 1973 durch den WDR in Düsseldorf und von der Bonner Oper mit der späten Uraufführung von Pousseurs in ihrer Form offenen und 1968 fertiggestellten Oper „Votre Faust“ auf einen Text von Michel Butor 1999 in der Reihe „Bonn(e) Chance“ mit dem Kölner Ensemble musikFabrik. Die offizielle Uraufführung 1969 in Mailand ging an der Komposition von Text und Musik vorbei.
Henri Pousseur ist am 6. März im Alter von neunundsiebzig Jahren in Brüssel nach einem arbeitsreichen Leben als Komponist, Kompositionslehrer und Musikpädagoge gestorben. Seine kompositorische Entwicklung hat Pierre Froidebise beeinflußt, der ihn 1951 mit Pierre Boulez in Kontakt brachte. Danach hatte er sich entschieden, sein Leben der neuen seriellen Musik in der Nachfolge Anton Weberns zu widmen. André Souris und Karlheinz Stockhausen haben ihn bei seinen ersten Arbeiten unterstützt. Sein Interesse an alter Musik, das ebenfalls auf seine Schul- und Studienjahre zurückgeht, hat er neben der neuen seriellen Musik nie aufgegeben und später in sein Komponieren miteinbezogen. Für sein Orchesterstück „Couleurs croisées“ von 1967 hat er eine Art Permutationsverfahren entwickelt, mit dem jede Zwölftonreihe in eine tonale Reihe und umgekehrt stufenweise überführt werden kann. Ohne parametrisches Disponieren ganz aufzugeben, sind auch viele weitere Kompositionen, wie „Votre Faust“ und die Paraphrase „Dichterliebesreigentraum“ von 1993 auf Robert Schumanns „Dichterliebe“ quasi tonal komponiert. Mit Henri Pousseur hat die Welt der neuen Musik einen ihrer ideenreichsten und engagiertesten Komponisten verloren.
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