Die Erinnerung ist immer da.
So richtig warm geworden ist Steve Reich mit Köln nie. Die Avantgarde, die einst von hier aus den Ton angab, steckte ihm schon als junger Mann quer im Hals, und die desaströse Uraufführung seines Chor- und Orchesterwerks „Desert Music“ beim WDR hat in ihm vor zwanzig Jahren sogar den Entschluss reifen lassen, nie mehr für so große Besetzung zu schreiben. Ein Auftrag der Europäischen Konzerthausorganisation ECHO brachte ihn nun dennoch wieder zurück an den Rhein – den Beifall für die Uraufführung seiner „Variations for Vibes, Pianos and Strings“ nahm der Amerikaner im Jahr seines siebzigsten Geburtstags persönlich entgegen. Und ließ sich vor der Premiere in der Philharmonie am 18. März sogar ein wenig Zeit, um die Neugier einiger Journalisten zu stillen.
Ihr neues Stück wird gleich am ersten Abend von der Akram Kahn Company vertanzt. Man sagt, die Tanzbarkeit ihrer Musik hinge mit ihrem Interesse an Jazz zusammen.
Ich habe keinen Jazz mehr gehört, seit John Coltrane starb, und das war in den sechziger Jahren. Aber ich habe – nicht zuletzt als Schlagzeuger – so viel vom Jazz gelernt, dass er sicher bleibende Spuren in meinem Schaffen hinterlassen hat. Das gilt auch für andere Musiken, etwa aus Afrika und Bali. Heute interessiere ich mich eher für das, was Leute wie Arvo Pärt oder Michael Gordon und die Gruppe um „Bang on a Can“ schreiben. Und wie steht es mit Ihrem eigenen Einfluss auf andere Komponisten?
Wenn ich Kollegen beeinflussen kann, dann schmeichelt mir das natürlich. Denn normalerweise mögen Komponisten andere Komponisten ja nicht so sehr. Mir geht es nicht anders alsdem Rest der Menschheit: Ich finde es besser, geliebt zu werden als gehasst.
Ihre Musik wird, anders als die viele ihrer Kollegen, ganz besonders auch von Choreographen geschätzt. Wie erklären Sie sich das?
Das ist ganz einfach. Als ich in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren Musik studierte, gab es, wie Sie sich gewiss erinnern können, nur eine Art und Weise, Musik zu schreiben, und die wurde in dieser Stadt hier bestimmt, in Köln. Stockhausen, Boulez, mein Lehrer Berio oder Cage schrieben Musik ohne Beat. Und es gab keine Melodien, die man hätte pfeifen können. Schönberg hatte zwar behauptet, dass Briefträger eines Tages seine Musik pfeifen würden, aber ich habe bis heute keinen gehört, der das tut. Ich will mich über diese Komponisten nicht lustig machen. Ganz im Gegenteil: Sie haben meinen vollen Respekt. Aber sie schrieben eine ganz andere Musik als die, die mir vorschwebte. Als Komponist und Schlagzeuger habe ich mich schon früh für Werke mit einem starken Puls interessiert, für Bach, Strawinsky, für Bebop. Und es war schwer, sich für dafür einzusetzen. Sie mögen es heute lächerlich finden, aber als ich anfing, meine Musik zu schreiben, habe ich mich ziemlich einsam und verlassen gefühlt.
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Sie machen in ihren Partituren weder den Tänzern Vorschriften noch arbeiten Sie eng mit Choreographen zusammen. Einige choreographischen Umsetzungen ihrer Werke haben in der Vergangenheit zu sehr mäßigen Resultaten geführt. Stört Sie das nicht? Wenn man Komponist ist und sich dafür entscheidet, Musik in Partiturform zu notieren und sie in einem Verlag zu veröffentlichen, dann muss man sich damit abfinden, dass es immer wieder grauenhafte Aufführungen gibt, auch rein musikalisch. Zwar konnte ich feststellen, dass die Qualität der Interpretationen mit der Zeit viel besser geworden ist, aber immer noch gibt es Konzerte, die sehr schlecht sind, und ich freue mich wirklich, dass ich die meisten davon nicht hören muss.
Obwohl auch die neuen Variationen formal sehr klar gegliedert sind, ist der musikalische Prozess darin nicht streng systematisiert. Warum die vielen Unregelmäßigkeiten?
1968 schrieb ich einen Aufsatz mit dem Titel „Music as a Gradual Process“, von dem viele glaubten, er sei als Manifest gemeint. Manifeste sind etwas für Idioten, die sich selbst zujubeln und den Rest ihres Lebens immer dasselbe tun wollen. Mit meinem Aufsatz war es so wie mit aller Theorie: Er beschrieb etwas, was es schon gab, und nicht das, was noch kommen sollte. Sicher gibt es Dinge, die sich auch bei mir wie ein roter Faden durch die Arbeit ziehen. Aber dieser rote Faden wird mit der Zeit im gewissen Sinne lockerer. Man wird etwas geschickter im Umgang mit seinem Material und man verlagert seine Interessen. Am Anfang habe ich Harmonik und Melodik radikal aus meiner Musik verbannt und dann langsam wieder eingeführt. Im gewissen Sinne gehe ich immer weiter rückwärts, zurück zur westlichen Tradition. Doch über all diesen Schritten schwebt wie eine Wolke die Erinnerung an die frühen Stücke. Sie ist immer da.
Nachdem Sie sich lange Zeit mit dem Einsatz von musikalischer Elektronik und anderen Medien beschäftigt haben, fällt auf, dass Sie in der letzten Zeit vor allem Stücke für traditionelles Instrumentarium schreiben.
Was ich im Augenblick tue, ist im gewissen Sinne eine Reaktion auf die intensive Beschäftigung mit Technologie in den späten achtziger und neunziger Jahren: die Zuspielbänder von „Different Trains“, Live-Sampling in „City Life“, dann habe ich für „The Cave“ und „Three Tales“ viele Jahre lang mit Videos gearbeitet. Ich hatte danach einfach das Bedürfnis, für eine Weile nur noch Musik zu schreiben für herkömmliche Instrumente und Stimmen. In einem neuen Streichquartett für das Kronos Quartet werde ich bald aber wieder zurückkommen auf die Technik der elektronischen Vokalverfremdung, die ich in „Three Tales“ entwickelt habe. Für mich ist es wichtig, stets dem zu folgen, was mich in Bewegung hält.
Raoul Mörchen
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