Die Zeit ist aufgelöst.
(Ausschnitt aus einem Interview vom 15. August 2003 mit Marco Böhlandt und Florian Zwißler während der Stockhausen-Kurse Kürten 2003 in der Sülztalhalle in Kürten.)
Zwißler: Nach 25 Jahren haben sie nun LICHT abgeschlossen, und Sie haben bereits angedeutet, daß es neue Projekte geben wird. Kann man nach 25 Jahren Arbeit an nur einem Projekt einfach wieder neu ansetzen?
Stockhausen: Ja, natürlich, ich lebe doch weiter.
Ich habe gesagt, dass ich zunächst Himmelskonstellationen komponiert habe in STERNKLANG, dann das Jahr mit zwölf Monaten und zwölf Menschentypen in SIRIUS, anschließend in den letzen 26 Jahren von 1977 bis jetzt die Woche mit ihren sieben Tagen, und nun möchte ich den Tag komponieren, die 24 Stunden des Tages.
Böhlandt: Wir haben uns die Frage gestellt, weil LICHT in gewisser Hinsicht ein Weltentwurf ist, und man damit ja auch einen Weltentwurf abschließt.
Für uns war die Frage interessant, ob man sich, wenn man an das Ende einer so riesigen Komposition gelangt, in viel stärkerem Maße die Frage nach den letzten Dingen stellt; das heißt, inwieweit man sich im Laufe eines solchen Kompositionsprozesses immer stärker die Frage nach dem “Danach” stellt – sowohl in kompositorischer Hinsicht (“Was kommt nach dem Werk?”), als auch im Hinblick auf das Jenseitige, da die Frage nach dem Jenseits ja in LICHT eine immens große Rolle spielt.
Stockhausen: Ich glaube nicht, dass zwischen dem Zyklus der Woche und dem Zyklus eines Tages ein so wesentlicher geistiger Unterschied besteht. Ich muss dafür sorgen, dass der Zyklus der 24 Stunden des Tages ebenso geistig ist und auf eine höhere Welt hinweist in jeder Stunde. Das finde ich sogar interessanter, weil es die Möglichkeit gibt, sich ganz andere Räumlichkeiten vorzustellen. Die 24 Stunden müssen nicht in einem Gebäude in 24 Räumen oder einem Museum dargestellt sein, sondern könnten auch an ganz verschiedenen Orten gleichzeitig aufgeführt werden. Die Konzentration auf den Sinn einer bestimmten Stunde schließt nicht aus, dass man die anderen Stunden im Bewusstsein behält. Und umgekehrt: wenn man sich den ganzen Zyklus vorstellt, so erscheint eine Rotation der Erde um sich selbst ja wie eine Illusion, denn je nachdem wo man ist, in Tokyo oder hier in Kürten, sieht man die Schatten- oder Sonnenseite der Erde. Aber man weiß immer im Bewußtsein, daß überall die Sonne ist. In diesem Sinne ist das eine ganz besonders interessante Aufgabe für Musik, daß man etwas musikalisch komponiert, was immer anwesend ist, sich andererseits aber – zugeordnet zu den einzelnen Stunden – individuell erleben lässt. Ich bin erst ganz am Anfang und kann noch nicht sehr viel darüber sagen; aber ich weiß, daß es in Klöstern früher selbstverständlich war, zu ganz bestimmten Stunden die Stundengebete zu singen un zu beten – das ist doch eine ganz wichtige Tradition, die bei uns weitgehend verloren gegangen ist.
Den Angelus läutet man manchmal noch, und die Bauern haben sich früher an den Kirchenglocken, die zu bestimmten Stunden läuteten, orientiert und wußten, wie der Tag eingeteilt ist.
Wollen mal sehen, wie es geht.
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Böhlandt: Sie haben gerade von Musik als ein Hinweis auf Höheres gesprochen, was ich im Kontext von LICHT sehr interessant finde. Wie hat man sich das vorzustellen?
Wir haben hier (im Rahmen der Stockhausen-Kurse 2003) das Stück KATHINKAs GESANG als LUZIFERs REQUIEM gehört; die Grundidee des Stückes ist ja, daß sich die Sinne verabschieden als eine geregelte Vorbereitung auf das Ableben. Es gibt da diese sehr markante Stelle, an der die Flötistin dieses “Aha” anstimmt. Ist der Tod so etwas wie die höchste Form der Erkenntnis? Ist das die Klärung aller Fragen in der Auflösung des Sinnlichen, daß selbst die Musik sich auflöst im Tod?
Stockhausen: Nein. Ich glaube, man kann zu jedem Zeitpunkt des Lebens das, was Du die ‚höchste Form der Erkenntnis‘ nennst, spüren, wenn man in der richtigen Verfassung ist. Das ist zwar selten, weil es vieler Voraussetzungen für diese Lotung des Geistes ins Jenseits bedarf.
Der Tod ist demgegenüber der direkte Übergang vom Leben in einem Körper in eine andere Form, die der Geist dann annimmt – so denke ich.
Ich sehe das eher wie einen Schlaf; im Schlaf selbst ist man aber bewußter, als wenn man hier schläft, im Traum. Es ist ein Einschlafen des Körpers und ein langsames Erwachen in einer ganz neuen Existenzform, die mehr licht-artig ist, mehr dem weißen Licht nahekommt. Man ist einfach beweglicher und kann so das ganze Universum allmählich entdecken.
Böhlandt: Ist die Musik dann die Form der Erkenntnis, die dieser Vorstellung am nächsten kommt?
Stockhausen: Natürlich. Die Musik hat die leichteste Materie und ist reine Schwingung – Luftschwingung, wenn sie von der praktischen Seite erfahren wird. Man kann sie auch studieren, wie sie komponiert ist, was schon ein großer Weg ist. Aber die körperliche Erfahrung von Musik bringt einen – manchmal, nicht immer – am nächsten in einen Zustand, in dem man den Körper nicht spürt.
Das ist sogar beim Komponieren so, oder beim Üben in einer Probe, daß man den Körper und sich selbst überhaupt nicht bewußt erlebt; sondern man ist einfach so Eins mit der Musik, als ob die Zeit aufgelöst wäre – sie ist aufgelöst. Deshalb haben viele Musiker dieses wunderbare Erlebnis, dass die Zeit auf einmal nicht mehr existiert, wie im Jenseits oder nach dem Tod. Sie leben so tief in den Schallschwingungen, dass sie für den Moment alles Körperliche vergessen. Es ist nicht da, die Zeit ist aufgelöst.
Das wunderbarste in der Musik ist, in manchen Momenten eben diesen Zustand zu ermöglichen, daß man die Zeit auflöst oder die Zeit sich auflöst – das liegt an einem selbst. Dadurch hat man diese ‚Nicht-Zeit‘ und ist dann so wie in einer höheren Lebensform, die ich das Jenseits nenne. Manchmal kann man in der Musik das Jenseits erreichen. Ich habe selten Menschen erlebt, die das durch das Lesen von Literatur oder durch das Erleben einer Schauspielaufführung, eines Dramas, oder durch Bilder, also durch die Augen erleben. Es ist ganz selten, dass man durch die Augen ins Jenseits gelangt. Es geht wirklich durch Musik. Und zwar nur durch ganz bestimmte Musik. Je körperlicher die Musik, je mehr die Musik Körpererlebnisse, Körpererfahrungen – Gefühle, wie man das nennt – enthält, umso weniger kann man das erleben, und umso mehr ist man an die Erde gebunden.
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